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Großprojekte mit Studentensyndrom




 

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Gern erinnere ich mich an meine Studentenzeit – und mit einem leichten Schauer an die vergleichsweise kurze Phase meiner Diplomarbeit. Aus meiner heutigen Sicht als Manager habe ich bei diesem Projekt den entscheidenden Fehler gemacht, nicht rechtzeitig mit dem gezielten Schreiben anzufangen. 1 Jahr Zeit war ja viel, alle Möglichkeiten standen offen, und alle mussten erkundet werden, mindestens ein 3/4 Jahr verbrachte ich mit Nachdenken, Recherchieren von Möglichkeiten und dem zügigen Verwerfen mancher Idee. Die Zeit verrann unaufhörlich, bis kurz vor dem Abgabetermin. Noch immer waren die meisten Textpassagen nicht klar, die Gliederung nicht fest und ich habe erst kurz vor Ende mit dem gezielten Arbeiten, dem Schreiben, begonnen. Dieses Phänomen des „zu-lange-Wartens“, des „nicht-konkret-Werdens“ und des „scheinbar-alle-Zeit-der-Welt-Habens“ bezeichne ich als „Studentensyndrom“.

Interessanterweise zeigen gerade Großprojekte meiner Erfahrung nach immer wieder das Studentensyndrom. Lange wird möglichst unkonkret geplant, unterschiedliche Optionen werden erörtert und mit Hilfe von Machbarkeitsstudien wieder verworfen, Zusammenhänge zwischen Teilprojekten (z.B. Hardware, Software, Service) werden nicht hergestellt und das ganze Projekt bleibt damit im Ungefähren. Man hat scheinbar unbegrenzt Zeit, denn das andere Teilprojekt kommt sowieso später. Am Ende folgt wie bei meiner Diplomarbeit Panik und die späte Erkenntnis, kaum noch Zeit für die Fertigstellung zu haben.

Heute würde ich meine Diplomarbeit anders machen. Ich würde die Gesamtarbeit in konkrete Teile zerlegen. Mein Plan wäre eine Gliederung, die so tief geht, dass die einzelnen Ergebnis (die geschriebenen Seiten) sichtbar und konkret werden. Ich würde jeder Gliederungseinheit eine Größe (die geplante Anzahl der Seiten zuordnen). Dann würde ich abschätzen, wie lange ich für eine Seite brauche. Damit hätte ich für jeden Gliederungspunkt eine geschätzte Dauer. Die könnte ich sogar nach den ersten geschriebenen Seiten messen. Dann würde ich die verbleibende Zeit in Abschnitte einteilen und diesen bestimmte Gliederungseinheiten zuordnen, am besten die schwierigsten zuerst, um Risiken frühzeitig zu testen. Ich hätte einen genauen Plan, wann welche Seite fertig sein muss. Ich hätte auch einen Überblick, wie die einzelnen Teile der Arbeit zusammenhängen. Ich würde dann im Laufe der Arbeit meinen Fortschritt verfolgen. Ich würde Kapitel fertig schreiben und sie dann von der Aufwandsliste streichen. Für jeden Zeitabschnitt hätte ich die genaue Kontrolle darüber, ob ich noch im Plan bin. Selbst wenn dies nicht der Fall ist: Ich hätte frühzeitig jede Möglichkeit, Kapitel oder Unterkapitel kleiner zu machen oder ganz wegzulassen, um verlorene Zeit wieder zu sparen. Das wäre ein ziemlich sicheres Projekt. Ich hätte die Kontrolle.

Viele Großprojekte verlaufen leider anders und sind dann krisengefährdet. Die folgende Aufstellung gibt Hinweise darauf, wie Großprojekte das Studentensyndrom vermeiden können.

  • Eine Liste (Übersicht) der erwarteten Ergebnisse machen (dabei auf fertige Systemteile achten, nicht bloße Beschreibungen, Studien)
  • Diese Liste muss zwischen unterschiedlichen Teilprojekten (z.B. Hardware, Software, Service) integrieren
  • Jedem Eintrag der Liste eine Größe im Verhältnis zu den anderen Einträgen zuordnen
  • Die Zeit in Teilabschnitte zerlegen und die erwarteten Ergebnisse den Zeitabschnitten zuordnen
  • Die Dauer für die Größe schätzen
  • Mit der Arbeit am System so schnell wie möglich beginnen, mit den wichtigsten und risikoreichsten Systemteilen zuerst
  • Die Dauer für die Größe messen
  • Für jeden Zeitabschnitt verfolgen, ob die zugeordneten Ergebnisse wirklich erzielt wurden (fertige Systemteile, nur Requirements zählen nicht, sondern fertig implementierte Requirements inklusive Test und Dokumentation): Dabei auf alle integrierten Teilprojekte achten, die gemeinsam liefern
  • Wenn dies nicht der Fall war, den Plan sofort dadurch anpassen, dass Aufwände in den folgenden Zeitabschnitten vermindert werden

Ich wünsche Ihnen bei Ihrem Großprojekt ein Managementteam an der Spitze, das für ein gesundes Projekt sorgt und das Studentensyndrom vermeidet.

 

 

Quelle Foto: © Falko Matte – Fotolia.com

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