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Das Ziel ist im Weg




 

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Schlechte Nachrichten für alle Selbstoptimierer: Disziplin und ambitionierte Ziele führen nicht zwangsläufig zu größeren Erfolgsaussichten – und schon gar nicht zu höherer Lebenszufriedenheit oder gar Glück. Jahrzehntelang hielt sich die Annahme, dass die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung ein zentraler Indikator für Willensstärke und somit auch für beruflichen Erfolg sei. Ausgelöst hatte diese These eine Versuchsreihe an den Universitäten Stanford/Kalifornien und Columbia/New York in den 1960er Jahren. Der prominente Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologe Walter Mischel stellte Kinder unterschiedlicher Altersgruppen in seinem berühmten „Marshmallow-Experiment“ vor die Wahl: Entweder ein Marshmallow sofort oder zwei zu einem späteren Zeitpunkt.

Der Marshmallow-Effekt

In eigens dafür eingerichteten Zimmern wurde den Kindern ein Marshmallow auf den Tisch gelegt. Der Versuchsleiter erklärte ihnen beim Verlassen des Raumes, dass sie noch ein zweites bekämen, wenn sie sich mit dem Verzehr gedulden würden, bis er wieder zurück sei. Das Verhalten der jungen Probanden wurde mit einer versteckten Kamera aufgezeichnet. Nicht zuletzt diese Aufzeichnungen machten das Experiment so populär: Die Kinder rutschten unruhig auf ihrem Stuhl umher, einige untersuchten das Objekt ihrer Begierde ganz genau, andere rauften sich die Haare, begannen zu singen oder zu pfeifen – einfach niedlich, wie die Kleinen gegen die süße Verlockung ankämpften. (So niedlich, dass sogar heutige Werbespots ähnliche Settings nutzen; man denke z.B. nur an einen der Ü-Eier-Werbespots.) Manche Kinder hielten der Versuchung nicht stand, während andere es schafften, die Wartezeit zu überbrücken und ein zweites Marshmallow zu ergattern.

Im weiteren Verlauf der Forschungsarbeit zeigte sich, dass diejenigen Kinder, die ihre Fähigkeit zur Selbstbeherrschung durch Belohnungsaufschub bewiesen hatten, im Durchschnitt bessere Schulnoten und höhere Bildungsabschlüsse erzielten als diejenigen ihrer Altersgruppe, die der Versuchung des Marshmallows sofort nachgegeben hatten. Sie zeigten sich außerdem kompetenter im sozialen Umgang und in der Bewältigung von Stress. Aufgrund dieser Ergebnisse verbreitete sich die These, dass ein erfolgreicher Lebensweg vor allem ein Resultat guter Selbstbeherrschung sei – der „Marshmallow-Effekt“ war geboren.

Selbstbeherrschung ist nicht alles

Walter Mischel jedoch rückt diese Fehldeutung in einem seiner neueren Bücher zurecht: Weder gebe es einen derartigen Automatismus, noch lasse der Marshmallow-Test eine Prognose für den weiteren Lebensverlauf zu. Und auf keinen Fall, so Mischel, sei Willensstärke eine Frage des Charakters und womöglich erblich bedingt, wie teils von anderen Autoren kolportiert. Zahlreiche Studien zeigten, dass Selbstbeherrschung (bei Kindern und Erwachsenen) in hohem Maße von den jeweiligen Umständen und Motivlagen abhänge – und sich bei Bedarf auch gut trainieren lasse.

Allerdings – und das ist der zentrale Punkt – sind Selbstdisziplin und Ziel-Fokussierung nicht immer die besten Erfolgsgaranten. Die Fähigkeit, sich (vom eigentlichen Ziel) abzulenken und auf andere Gedanken zu bringen, kann in manchen Fällen der erfolgsentscheidende Faktor sein, so Mischel.

Die Philosophin Ina Schmidt geht in ihrem jüngsten Buch noch einige Schritte weiter. In der ständigen Suche nach dem „Besseren“ und der Orientierung auf konkrete Ziele sieht sie sogar echte „Glücksverhinderer“.

Ziel-Fokussierung als „Glücksverhinderer“

Wir leben in einer Gesellschaft, in der nahezu alle Menschen fortlaufend auf der Suche sind, nach sich selbst, nach Sinn, nach einem gelungenen Leben. Es gibt einen regelrechten Zwang zur Weiterentwicklung – wer sich dem Imperativ der Selbstoptimierung verschließt, wird mehr als argwöhnisch beäugt. Ziellos und zufrieden im Hier und Jetzt? Da stimmt etwas nicht!

Wer aber nur noch Augen für seine gesteckten Ziele hat, wird blind für die Chancen, die abseits davon liegen. Wer ständig damit beschäftigt ist zu schauen, wo er oder sie noch ein bisschen mehr aus sich rausholen kann, verliert die Wertschätzung für das, was da ist. Ständige Selbstdisziplin verstellt dem Zufälligen und Spontanen, dem Spielerischen und Kreativen den Weg. Und das macht über kurz oder lang mindestens unzufrieden, oft aber auch unglücklich und krank.

Ein zweiter Aspekt ist die Orientierung auf die Zukunft. Das „Bessere“ (egal, ob es um ein besseres Ich oder ein besseres finanzielles Auskommen geht) wird in die Zukunft verlagert. Das Hier und Jetzt, in dem das eigentliche Leben stattfindet, wird zur (manchmal lästigen) Nebensache – die in Achtsamkeitskursen dann mühsam zurückerobert werden muss, wenn Stress und Burnout der Lebensenergie den Hahn abdrehen. Und was passiert eigentlich, wenn wir all unsere Ziele erreicht haben? Ist das ein gelungenes Leben? Messen wir unsere Lebens-Leistung am Erfolg erreichter Ziele? Und was ist, wenn wir unser größtes, einziges, wichtigstes Ziel verfehlen? Macht das unser Leben sinnlos?

Die Lektüre des neuen Buchs von Ina Schmidt bietet einige Inspiration zu diesem Thema. Sie ermutigt ihre LeserInnen dazu, Wege zu gehen ohne ein konkretes Ziel zu verfolgen, Umwege, Sackgassen, Klippen und Schotterpisten zuzulassen auf dem eigenen Lebensweg. Vor allem aber gibt sie keine Ratschläge und Lösungen vor. Sie stellt Fragen wie diese:

  • „Bin ich tatsächlich auf der Suche – und woran merke ich das?“
  • „Was genau suche ich?“
  • „Warum strebe ich nach dem, was ich glaube, suchen zu müssen?“

Damit kann man ja schon mal anfangen.

Zum Weiterlesen:

  • Mischel, Walter (2015): Der Marshmallow-Test. München: Siedler
  • Schmidt, Ina (2017): Das Ziel ist im Weg. Eine philosophische Suche nach dem Glück. Köln: Bastei Lübbe

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