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Perfektionismus – akkurat in den Abgrund (Teil 1)




 

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Gut ist nicht gut genug und irgendwo geht immer noch was. Das Streben nach Verbesserung ist menschlich. Ohne dieses Streben gäbe es keine Entwicklung, keine Innovationen, keine Erfolgsgeschichten. Wenn die Jagd nach dem Optimum aber übertrieben wird, verkehrt sich der Effekt in sein Gegenteil. Der Zeitgeist spricht bereits vom „(Selbst-)Optimierungswahn“ und seinen Folgen: Überforderung, Burn-out, Scheitern. Die Obsession, alles besser, am liebsten perfekt, machen zu wollen, bringt Phänomene hervor, deren langfristige gesellschaftliche und wirtschaftliche Auswirkungen noch gar nicht abzusehen sind: Job-Hopper; die nie lernen Verantwortung zu übernehmen; Extremnetzwerker, die Beziehungen zu anderen Menschen nur nach dem Nutzen bewerten; Helikoptereltern, die ihren unselbständigen Nachwuchs mittlerweile bis an die Uni begleiten; App-Nutzer, die sich bereitwillig dem Diktat der Fitness-, Schönheits- und Psychoindustrie unterwerfen.

Sicher, ein Quäntchen Perfektionismus schadet nicht. Sich anzustrengen, etwas besonders gut machen zu wollen, Wert auf eine hohe Qualität zu legen – das alles ist richtig und wichtig. Doch wenn der innere Antreiber „Sei perfekt!“ zu dominant wird, dann gilt der Ausspruch von Willy Brandt: „Perfektionismus ist ein schreckliches und nicht nur deutsches Laster.“

Dabei machen Perfektionisten nicht nur anderen, sondern vor allem sich selbst das Leben zur Hölle.

Woran man Perfektionisten erkennt

Auch wenn es Grauzonen gibt, sind Perfektionisten nicht schwer zu erkennen. Die folgenden fünf Merkmale sind typisch:

  1. Perfektionisten machen am liebsten alles selbst: Die Erfahrung (oder auch nur die Vermutung), dass andere die Dinge anders – und d.h. möglicherweise schlechter – machen, verleitet Perfektionisten dazu, möglichst viele Aufgaben selbst zu erledigen. Delegieren sie doch einmal etwas, neigen sie zu exzessiver Kontrolle. Zudem fällt es ihnen schwer, Ergebnisse zu akzeptieren, die von ihren Vorstellungen abweichen. Oft hört man von Perfektionisten auch das Argument, es würde mehr Zeit brauchen, anderen eine Aufgabe zu erklären, als diese lieber gleich selbst zu erledigen.
  1. Perfektionisten werden nie fertig: So richtig perfekt ist für die meisten Perfektionisten eigentlich nichts. Entsprechend lange können sie sich mit einer Sache aufhalten, wenn sie nicht durch äußere Zwänge, z.B. feste Termine gebremst werden. Dies äußert sich besonders in übertriebenen Planungen. Manche Perfektionisten planen so lange und so gründlich, dass für die Ausführung einer Sache gar keine Zeit mehr bleibt. Das Paradebeispiel ist für mich ein ehemaliger Studienkollege, der vier Jahre (!) lang Literatur sammelte und hübsch verwaltete, ehe er das erste Wort seiner Dissertation schrieb – und das schließlich auch nur auf Drängen seines Doktorvaters, der endlich in Pension gehen wollte.
  1. Perfektionisten entscheiden nicht gern: Sich zu entscheiden bedeutet sich festzulegen. Das ist etwas, das den meisten Perfektionisten nicht sonderlich liegt. Weil es immer noch eine bessere Lösung geben könnte oder weil noch nicht alle Aspekte sorgfältig genug berücksichtigt worden sind, zögern Perfektionisten Entscheidungen oft hinaus. Dies kann soweit gehen, dass sich geradezu eine Unfähigkeit zu entscheiden entwickelt, was erhebliche praktische und psychische Probleme mit sich bringt.
  1. Perfektionisten neigen zu Überkompensation: Um bloß nichts falsch zu machen, schießen Perfektionisten gern mal über das Ziel hinaus. Sie sorgen für jede Menge Backups, damit beim Reisen, bei Feierlichkeiten oder am Arbeitsplatz nichts schiefgeht. Lieber warten sie bei einem Termin noch eine Stunde im Café, nur um sich nicht fünf Minuten zu verspäten.
  1. Perfektionisten knüpfen ihren Selbstwert an Erfolg: Fehler und Misserfolge werden von Perfektionisten zum Anlass genommen, sich selbst zu verurteilen. Ihren Selbstwert machen sie davon abhängig, ob es ihnen gelingt, den hochgesteckten eigenen Ansprüchen zu genügen. Dabei gibt es nur ein Schwarz oder Weiß. Die geringste Abweichung von der perfekten Vorstellung, der kleinste Fehler, sorgt dafür, dass der Perfektionist ALLES (und sich selbst gleich mit) für gescheitert erklärt. Ein „Dieser Teil ist mir aber gut gelungen.“ gibt es für Perfektionisten nicht. Menschen, die immer alles perfekt machen wollen, glauben zudem, dass auch andere sie nur dann akzeptieren und mögen, wenn ihnen die Perfektion gelingt. Perfektionismus und ein geringes Selbstwertgefühl gehen oft Hand in Hand.

Warum Perfektionismus schadet

Sicher findet sich der ein oder andere in einigen der Beschreibungen wieder. Das ist, wie gesagt, unproblematisch oder sogar von Vorteil. Hohe Ansprüche an sich selbst sind per se kein Auslöser für schädlichen, sog. dysfunktionalen Perfektionismus. Aus Sicht der Psychologie wird Perfektionismus erst dann zur pathologischen Erscheinung, wenn er als charakteristisch für eine Person gelten kann. Das bedeutet, dass verschiedene Lebensbereiche einer Person vom Streben nach Perfektion betroffen sind, z.B. die Familie, das Gesundheitsverhalten, der Beruf.

Aber auch, wenn „nur“ die Arbeit betroffen ist, können der Leidensdruck und die gesundheitlichen Risiken immens sein. Das gilt besonders, wenn der Drang, immer sein Bestes zu geben, Stress erzeugt und dazu führt, permanent die eigenen Grenzen zu überschreiten. Dabei spielt der Umgang mit den eigenen hohen Ansprüchen eine entscheidende Rolle: Bin ich mir grundsätzlich sicher, dass ich die Ansprüche in meinem Umfeld auch erfüllen kann, muss ich mich zwar vor Überlastung hüten, habe aber ein eher geringes Risiko für ernsthafte psychische Folgen. Habe ich jedoch Zweifel, den eigenen hochgesteckten Ansprüchen genügen zu können und dominiert die Angst vor Fehlern und Versagen mein Handeln, so ist das Risiko psychischer und physischer Folgen hoch.  Stressbedingte Beschwerden wir Kopf- und Rückenschmerzen, Schlafstörungen, Erschöpfung, Herz-Kreislaufprobleme sowie Depressionen und Burn-out können sich aus einem dysfunktionalen Perfektionismus entwickeln.

Perfektionismus schadet jedoch nicht nur dem Perfektionisten selbst, sondern auch seinem Umfeld. Beispiele sind etwa der Unternehmer, der meint, alles selbst erledigen zu müssen und dabei seine Firma an den Rand des Ruins treibt oder die Mutter, die ihre Familie mit den eigenen Ansprüchen drangsaliert. Krankhafte Perfektionisten belasten Organisationen, indem sie (u.a. durch das Misstrauen anderen gegenüber) das Klima vergiften und Motivation und Eigeninitiative anderer Mitarbeiter abtöten. Paradoxerweise führt Perfektionismus ab einem gewissen Punkt zu Fehlern, was für den Betroffenen und die Organisation eine Spirale in den Abgrund in Gang setzen kann.

Lesen Sie in der nächsten Woche, wie man der Perfektionismus-Falle entgeht und welche praktischen Übungen helfen, perfektionistische Zwänge zu überwinden.

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Quelle Foto: @laboko – Fotolia.com

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