Macht Erfahrung klug? Typische Pannen im Lernprozess von Organisationen
9. Juni 2017
Darüber, ob und wie Organisationen lernen können, ist in den letzten Jahrzehnten viel nachgedacht und geschrieben worden. Spätestens seit Senges Bestseller über die Lernende Organisation ist das Thema ein Dauerbrenner auch in Unternehmen. Und ständig kommen neue Studien, Thesen und Modelle dazu.
Kürzlich las ich einen Bericht über den Kongress „Intelligenz und Entscheidung. Zur Aktualität von James March in agilen Zeiten“, der im Mai in Berlin stattfand. Unter den Referenten war auch Alfred Kieser, ehemaliger Professor an der Uni Mannheim und derzeit Gastprofessor in Witten/Herdecke. Er widmete sich in seinem Vortrag der Lerntheorie Marchs – ein willkommener Anlass, auch hier einmal an den Management-Guru und seine Sichtweise zum Lernen in Organisationen zu erinnern.
James G. March, geb. 1928, ist einer der renommiertesten Organisationstheoretiker weltweit. Der US-Amerikaner, einst Professor in Stanford, wurde vor allem durch seine Forschungen zur verhaltenswissenschaftlichen Entscheidungstheorie bekannt. Dabei interessierte ihn immer auch die Frage, ob und wie Organisationen aus Erfahrungen lernen und damit „intelligenter“, d.h. anpassungsfähiger an sich wandelnde Umwelten, werden können.
Organisationales Lernen verläuft nach March in einem Zirkel mit vier Elementen:
- Beobachtung: In Unternehmen werden bestimmte Ereignisse beobachtet, z.B. ein Rückgang von Neukunden oder eine auffällige Erhöhung des Krankenstandes.
- Interpretation: Die gemachten Beobachtungen werden gedeutet, der Rückgang der Neukunden z.B. auf ein zu hohes Preisniveau zurückgeführt, obwohl auch viele andere Faktoren dafür verantwortlich sein könnten. Menschen, so March, neigen gern zu einfachen Kausalzusammenhängen. Meist fehlt es aber an Eindeutigkeit.
- Individuelles Handeln: Einzelne Mitglieder der Organisation stellen ihr Handeln um. MitarbeiterInnen der Vertriebsabteilung könnten z.B. in Kundengesprächen Rabatte oder Zusatzleistungen zum gleichen Preis anbieten. Im Austausch mit den Kunden finden sie dann aber z.B. heraus, dass nicht der Preis das Problem ist, sondern sich der Bedarf an einer bestimmten Dienstleistung grundsätzlich verschoben hat oder bestimmte Produkte aus technischen Gründen zunehmend durch andere ersetzt werden.
- Organisationales Handeln: Das, was die VertriebsmitarbeiterInnen bei den Kunden in Erfahrung bringen, geben sie an andere Abteilungen weiter. So werden Verbesserungsvorschläge wie z.B. eine andere Schwerpunktsetzung des Dienstleistungsangebotes entwickelt, die sich auf das gesamte Unternehmen ausbreiten. Die Organisation leitet Veränderungen ein, deren Folgen sie wiederum beobachtet, und nach einiger Zeit beginnt der Lernkreislauf von vorn.
Der skizzierte Lernprozess ist sehr anfällig für Pannen. Schon beim Übergang von der Beobachtung zur Interpretation gibt es viele Fehlerquellen. So sind nicht nur mehrdeutige Interpretationen möglich, sondern die Auffassungen sind auch subjektiv eingefärbt. March fand heraus, dass MitarbeiterInnen, die eine positive Einstellung zu ihrem Arbeitgeber haben, beobachtete Ereignisse positiver aufnehmen als solche, die an ihrem Arbeitsplatz unzufrieden sind. Auch der Übergang vom individuellen zum organisationalen Lernen ist in der Praxis alles andere als einfach. Hierarchien, Machtinteressen, Verteilungskämpfe führen dazu, dass z.B. übergreifende Verbesserungsvorschläge keine Resonanz finden oder aktiv abgeblockt werden. Selbst das individuelle Lernen sieht March nicht unbedingt gegeben. Aus Interpretationen kann nur gelernt werden, wenn auch Veränderungsspielräume gesehen werden. Sind MitarbeiterInnen aber so in ihren Rollen gefangen, dass dies nicht der Fall ist, findet auch kein Lernen statt, das in die Organisation einfließen kann.
Insofern können Organisationen zwar aus Erfahrung lernen. Zugleich kann Erfahrungslernen aber auch die Weiterentwicklung der Organisation zu mehr Intelligenz behindern. Konsequenterweise heißt das jüngste Buch von March im Original dann auch „The Ambiguities of Experience“ (2010 erschienen; deutsche Ausgabe 2016). Typische Stolperfallen, die beim organisationalen Lernen aus Erfahrung lauern, sind u.a.:
- Das Gesetz der heißen Herdplatte: Wer sich einmal die Finger verbrannt hat, wagt in der Regel keinen zweiten Versuch. Sobald auch nur einmal eine Veränderung oder Maßnahme schiefgeht, wird sie verworfen und Menschen wenden sich von dem Thema ab. Solche Misserfolgsfallen verhindern Neues.
- Die Kompetenzfalle: Menschen (und Organisationen) verstärken sich am liebsten da, wo sie bereits Kompetenzen haben. Statt neues Wissen hinzu zu gewinnen, wird vorhandenes Wissen vertieft und verfeinert. Kompetenz ist manchmal auch der Feind der Weiterentwicklung, wie jeder bei sich selbst beobachten kann.
- Die Kopierpanne: Vermeintlichen Vorbildern wird zu oft unkritisch gefolgt. Immer wieder werden z.B. Geschäftsmodelle erfolgreicher Unternehmen kopiert – und immer wieder scheitern die Nachahmer. Denn Lernen aus zweiter Hand funktioniert nur sehr bedingt. Außergewöhnliche Erfolgsgeschichten, so March, beruhen selten auf reproduzierbaren Strategien. Vielmehr verdankt sich der Ruhm oft dem Eingehen hoher Risiken gepaart mit günstigen Umständen.
- Die Macht des Aberglaubens: Wenn zwei Ereignisse in einem zeitlichen Zusammenhang auftreten, wird häufig auch eine kausale Beziehung unterstellt. Steigt der Krankenstand nach dem Umzug in ein neues Bürogebäude, wird vielleicht die Klimaanlage für die Krankheitswelle verantwortlich gemacht, obwohl ebenso Restrukturierungspläne, eine Grippewelle oder auch der pure Zufall damit im Zusammenhang stehen könnten.
Unklare Kausalbeziehungen sieht March als eines der wichtigsten Hemmnisse beim organisationalen Lernen an. Er schlägt Unternehmen, die „intelligenter“ werden wollen, daher vor, nicht zu viele kleine Änderungen gleichzeitig anzustoßen, sondern nur wenige große und deren Wirkungen genau zu verfolgen. Bei vielen kleinen Änderungen können Effekte nicht eindeutig zugeordnet werden, weshalb das Lernen zwangsläufig in eine Sackgasse mündet.
Diese Thesen sind nur ein kleiner Ausschnitt aus dem March’schen Theorie-Kosmos. Wer Lust auf mehr hat, wird fündig bei James G. March (2016): Zwei Seiten der Erfahrung. Wie Organisationen intelligenter werden können, Carl Auer Verlag.
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