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Ambient Assisted Living, Teil 2: Ethische Herausforderungen




 

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Der Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme auf der Basis intelligenter Technologien ist mehr als nur ein Riesengeschäft. Angesichts des grassierenden Fachkräftemangels und steigenden Kostendrucks scheinen remote-Pflege, in-home-Monitoring und die Verwendung von Robotern im Gesundheitswesen künftig unumgänglich zu sein. Die Zahl der auf Pflegeleistungen angewiesenen Personen wächst stetig. Im Jahr 2050 werden in Deutschland ca. 5 Mio. Pflegebedürftige leben – und schon heute bewegt sich das Gesundheitssystem an seiner Belastungsgrenze.

Es ist keine Frage, dass Ambient Assisted Living (AAL) viele Vorteile bietet. Die neuen Technologien stiften einen unmittelbaren Nutzen, den die Hersteller von altersgerechten Assistenzsystemen, aber auch z.B. politische Initiativen in den Mittelpunkt stellen. Verwiesen wird auf eine Erhöhung der Lebensqualität im Alter, auf mehr Sicherheit und bessere Versorgung. Für Ältere, so die Kernaussage, bedeutet die technische Unterstützung, dass sie in ihrer Wohnung bleiben können, auch wenn sie physische oder psychische Einschränkungen haben.

Wer profitiert von AAL?

Weniger im Fokus steht allerdings, dass natürlich nicht nur (und vielleicht noch nicht einmal in erster Linie) alte und pflegebedürftige Menschen von AAL profitieren. So gibt es Hinweise darauf, dass der Technikeinsatz vor allem die Lebensqualität von pflegenden Angehörigen und professionellen Pflegekräften verbessert – nicht unbedingt die Lebensqualität der Person, deren Vitalparameter, Verhalten oder Bewegungsradius automatisch kontrolliert werden.

Und selbstverständlich hegen Politik und Pflegekassen ein starkes Interesse am Einsatz von AAL, denn dadurch lassen sich Kosten reduzieren. Zum einen kann durch die technische Unterstützung Personal eingespart werden, zum anderen werden die Pflegekassen entlastet, weil die Anerkennung von Pflegegraden an die „Selbständigkeit“ pflegebedürftiger Menschen gekoppelt ist. „Selbständigkeit“ ist in der Sozialgesetzgebung definiert durch die Abwesenheit personaler Hilfe. Wenn ältere Menschen also Verrichtungen des täglichen Lebens mit technischen Hilfsmitteln bewältigen können, gelten sie als „selbständig“. Dies könnte dazu führen, dass technischen Lösungen zunehmend der Vorzug vor einer Versorgung durch Pflegekräfte gegeben wird. Gesetzlich nicht ausreichend geregelt sind indes die Voraussetzungen für die Genehmigung und die Refinanzierung der technischen Assistenzsysteme. Einige Bundesländer drängen daher den Bund, hier möglichst schnell verbindliche und einheitliche Regelungen zu schaffen.

 Ethische Herausforderungen technischer Assistenzsysteme

Technische Assistenzsysteme sind in ihren Folgeerscheinungen notwendig ambivalent. Sie schaffen neue Möglichkeiten, bieten Entlastung, erhöhen in vielen Bereichen Sicherheit und Komfort. Zugleich wirft ihr Einsatz neue und kaum absehbare Probleme und ethische Fragen auf, zu denen es bislang nur wenig Forschungsarbeiten und noch weniger konkrete Handlungsempfehlungen gibt. Dabei drängt die Zeit, denn viele Technologien, z.B. monitoringbasierte Systeme sind längst im Einsatz.

Die grundsätzliche ethische Frage im Kontext von AAL ist, was ein „gutes Leben“ und eine „hohe Lebensqualität“ im Alter eigentlich genau bedeuten und welche Rolle die technologische Entwicklung dabei spielen kann und spielen soll. Wie ist z.B. die Videoüberwachung alter Menschen ethisch zu bewerten, wie sie schon jetzt in vielen stationären Pflegeeinrichtungen eingesetzt wird? Wird die dadurch gewonnene Sicherheit durch eine Verletzung der Menschenwürde erkauft? Oder anders gefragt: Rechtfertigt die gewonnene Sicherheit den Verlust an Privatheit? Diese Fragen sind drängend, denn die Etablierung von Pflegerobotern, die (schon wegen ihrer Funktionstüchtigkeit) mit Mikrofonen und Kameras ausgestattet sind, ist absehbar.

Und was ist aus ethischer Sicht von intelligenten Hausnotrufsystemen zu halten, die alle Gewohnheiten eines älteren Menschen kennen und Alarm schlagen, wenn es „Unregelmäßigkeiten“ im Tagesablauf gibt? Auch das ist keine Science Fiction mehr. Der bekannte Alarmknopf am Handgelenk hat bald ausgedient. An seine Stelle treten Bewegungsmelder und Universalsensoren, die z.B. erkennen, wenn ein Mensch nachts seine Wohnung verlässt oder nicht zur üblichen Zeit aufsteht. Um solche und andere „Abweichungen“ zu erkennen, ist es natürlich nötig, dass die Tagesroutinen der betreffenden Menschen erfasst und überwacht werden.

Auch intelligente Fußböden gibt es bereits: Bodensensoren, die ähnlich einer Trittschalldämmung unter dem Bodenbelag verlegt werden, erkennen Stürze und können gehende von liegenden Personen unterscheiden. Sicherheit auf Schritt und Tritt – aber eben auch ständige Kontrolle und Überwachung.

Nicht zuletzt bedeutet mehr Technikeinsatz zugleich weniger Personaleinsatz. Das kann an manchen Stellen ein Segen sein (vor allem für die Pflegenden). Doch wie mag es sich anfühlen, als hilfsbedürftiger Mensch von einem Robotersystem umgelagert, gewaschen, gefüttert oder „unterhalten“ zu werden? Ungeklärt (und ebenfalls drängend) sind auch Fragen der Finanzierung und des Zugangs zu technischen Assistenzsystemen. Wer soll darüber entscheiden, wer technisch „versorgt“ wird und wer nicht: die eigene finanzielle Stärke, die Krankenkasse, staatliche Stellen, Ärztinnen und Ärzte?

Die technologischen Entwicklungen überschlagen sich geradezu, und die Begeisterung für technische Lösungen ist groß. So groß, dass mitunter gar nicht mehr gesehen wird, dass manche Probleme ebenso gut oder besser ohne technische Hilfsmittel gelöst werden können. Ein Beispiel hierfür sind speziell ausgebildete Hunde für Demenzkranke, die diese bei Bedarf nach Hause zurückführen können – statt Videoüberwachung oder eines automatischen Alarms beim außerplanmäßigen Verlassen der Wohnung. Die Machbarkeitseuphorie lässt auch ein wenig vergessen, dass Technik zwar Probleme abmildern oder lösen kann, deren Ursachen damit jedoch nicht aus der Welt geschafft sind.

Die ethische Bewertung von Ambient Assisted Living ist ein hochkomplexes Arbeitsfeld, das längst noch nicht in erforderlichem Maße beackert ist. An der Universität München (LMU) wurde allerdings bereits 2012 im Rahmen einer vom BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung) geförderten Studie ein Instrument zur ethischen Evaluierung altersgerechter Assistenzsysteme (MEESTAR) entwickelt. Dieses Modell und die daraus abgeleiteten ethischen Leitlinien für altersgerechte Assistenzsysteme werde ich in Teil 3 diese Blogartikels vorstellen.

Anregungen, Ergänzungen und Kommentare sind wie immer sehr willkommen!

Quellen und weiterführende Lektüre:

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