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Wenn der Change zum Dauerzustand wird: Ungerichtete Innovationen durch agile Netzwerke




 

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Der Veränderungsdruck auf Unternehmen ist hoch. Change-Treiber wie die Digitalisierung verschärfen die Lage weiter. Doch wie sollen Unternehmen es schaffen, sich (und ihre Produkte) am laufenden Band neu zu erfinden, wenn sie doch gleichzeitig ihr Tagesgeschäft am Laufen halten müssen? Jeder, der mit Change-Projekten zu tun hat, weiß wie anstrengend und zeitraubend solche Vorhaben sind – und auch, wie genervt und demotiviert Belegschaften mittlerweile reagieren, wenn wieder einmal ein Veränderungsprojekt angekündigt wird. „Change“ ist in vielen, vielleicht sogar den meisten, Unternehmen längst zum Dauerzustand geworden. Herkömmliche Methoden des Change-Managements greifen da nur schwerlich.

Die meisten Unternehmen, vor allem in Europa, neigen dazu das Problem durch getrennte Welten zu lösen: Sie führen ihr Standardgeschäft weiter und gründen für Innovationsvorhaben Inkubaturen oder Spezialeinheiten, die getrennt von der übrigen Organisation operieren. Doch das wird sich in Zukunft ändern, folgt man den Thesen des Change-Management-Gurus John Kotter.

Organisationales Doppelleben – das duale Betriebssystem

Kotter vertritt das Prinzip des „dualen Betriebssystems“, das er in seinem Buch „Accelerate“ allen wandelwilligen Unternehmen ans Herz legt. Er schlägt vor, eine Art organisationales Doppelleben zu etablieren. Im „ersten Betriebssystem“ wird demnach das laufende Geschäft gemanagt. Das „zweite Betriebssystem“ entspricht einer agilen Netzwerkorganisation und besteht parallel zum ersten System. Hier ist der Ort für kleinteilige, ungerichtete und vor allem schnelle Innovationen. Selbstorganisierte Teams entwickeln Ideen und innovative Lösungen zu Problemen der Organisation. Sie tun dies im Rahmen von Leitplanken, die das Management festlegt. Dies ist wichtig, um den Teammitgliedern Sicherheit und Freiräume für ihr Engagement zu verschaffen. Innerhalb dieser Rahmenbedingungen, in denen Prozesse und Rollen definiert werden, agieren sie jedoch frei und unbehelligt von Vorgaben und Kontrollmechanismen des ersten Betriebssystems.

Die Mitglieder dieser Change-Teams bestehen aus Freiwilligen, die ein bis zwei Tage ihrer wöchentlichen Arbeitszeit ausschließlich der Innovation widmen. Das Vorgehen der Teams entspricht agilen Prinzipien, was kurze, schnelle Zyklen mit direktem Feedback erlaubt. Sobald eine Idee in ein Stadium kommt, das sie für das gesamte Unternehmen interessant macht, findet ein Wechsel in das erste Betriebssystem statt. Denn der Roll-out auf die gesamte Organisation erfordert in den meisten Fällen den Einsatz eines professionellen Change- und Projektmanagements.

Voraussetzungen für den Aufbau eines zweiten Betriebssystems

Wer in seinem Unternehmen ein zweites Betriebssystem aufbauen möchte, muss die strukturellen und auch die kulturellen Voraussetzungen dafür schaffen. Dies erfordert vor allem bei den Führungskräften, oftmals aber auch bei den MitarbeiterInnen ein Umdenken. Die Kollegen und Kolleginnen müssen bereit (und fähig) sein, in einem selbstorganisierten Team an eigenen Fragestellungen zu arbeiten. Dies erfordert ein hohes Maß an Disziplin und Eigenverantwortung, aber auch Belastbarkeit, da die Innovationsprojekte neben den „normalen“ Aufgaben durchgeführt werden. Wer für ein oder zwei Tage in der Woche an seinem eigentlichen Arbeitsplatz fehlt, fühlt sich oft gehetzt und zerrieben zwischen beiden Anforderungen. Hier ist die Organisation gefragt, Entlastung zu bieten.

Führungskräfte müssen sich daran gewöhnen, Kontrolle abzugeben. Für sie ist es oft ein Spagat zwischen den klassischen Linienaufgaben, die ja im ersten Betriebssystem nach wie vor bestehen bleiben, und dem neuen Führungsverständnis, nach dem sie die richtigen Leute zusammenbringen, Freiräume schaffen und Ressourcen organisieren müssen. Sie müssen die agilen Netzwerke in ihrer Arbeit unterstützen und sind auch diejenigen, die entscheiden, welche Veränderungsidee auf die Agenda des gesamten Unternehmens gesetzt werden soll. Gleichzeitig verantworten sie das Tagesgeschäft, von dem die Organisation ja lebt, und müssen sich hier mit fehlenden Arbeitskräften arrangieren, die in das zweite Betriebssystem abwandern.

Entscheidend für den Aufbau eines dualen Betriebssystems ist, dass die Beteiligten einen echten Grund für ihr Engagement haben. Man wird keine Freiwilligen gewinnen, wenn die Change-Story schlecht ist – oder es, wie so oft, gar keine gibt. Menschen brauchen etwas, woran sie glauben können, wovon sie ein Teil sein möchten. Das Management muss also zu 100% hinter der Idee stehen und eine strategische Vision zeigen, hinter der sich die MitarbeiterInnen versammeln mögen.

Die agilen Netzwerke müssen im Unternehmen auch aktiv beworben werden, sie dürfen kein Schattendasein im kleinen Kämmerlein führen. Es muss Multiplikatoren – Change Agents – geben, die ihre Ideen und Initiativen in die gesamte Organisation tragen, um weitere MitstreiterInnen zu gewinnen. Es muss einfach sein, sich an der Veränderung „von unten“ zu beteiligen. Bürokratische und strukturelle Hürden müssen erkannt und vom Management beseitigt werden. Die Ergebnisse der Change-Teams müssen gewürdigt werden, indem Erfolge gefeiert werden. Scheitern Lösungsansätze, und das ist bei diesem Vorgehen hoch wahrscheinlich, so soll dies als ermutigender Lernfortschritt verbucht werden.

Stolpersteine und Grenzen des dualen Betriebssystems

Eine der größten Herausforderungen des Konzepts von Kotter ist sicher die Herstellung einer funktionierenden Zusammenarbeit zwischen erstem und zweitem Betriebssystem. Das ist ein Balanceakt, der Führungskräften wie MitarbeiterInnen Einiges abverlangt. Man kann Menschen nicht in neue Strukturen zwingen und erwarten, dass sich der Erfolg schon von alleine einstellt. Das Unternehmen tritt mit der Einführung eines dualen Betriebssystems in einen Lernmodus ein, der auch Schmerzen verursachen wird. Gelingt es jedoch, eine Konstellation zu finden, in der sich eine positive Eigendynamik entwickelt, sind die Innovationsteams kaum mehr zu stoppen und das Unternehmen profitiert von den positiven Effekten.

Ein weiteres Problem kann eine schleichende „Perfektionierung“ und damit einhergehenden Überregulierung der Innovationsprojekte sein. Damit sich das Vorgehen nicht abnutzt, ist es wichtig, das Tempo zu halten oder sogar noch Beschleuniger einzubauen. Es darf in den selbstorganisierten Teams nicht zu „professionell“ werden. Die übliche Projektbürokratie ist im zweiten Betriebssystem unbedingt zu vermeiden.

Große Veränderungsvorhaben wie etwa eine Restrukturierung oder die Einführung eines neuen Geschäftsmodells sind mit dem zweiten Betriebssystem i.d.R. nicht zu leisten. Sollen zielgerichtete Veränderungen stattfinden, muss das Management dezidiert den Auftrag erteilen, dieses bestimmte Ziel zu erreichen und Verantwortliche bestimmen. Bei den agilen Netzwerken geht es gerade darum, keine vorgegebenen Ziele zu verfolgen, sondern kleinteilige, ungerichtete Verbesserungen und Neuerungen für die Organisation zu finden, die jenseits der bestehenden Strukturen liegen. Der Vorteil ist, dass die Organisation damit keinem ruckartigem Wandel ausgesetzt ist, sondern sich Stück für Stück in die richtige Richtung bewegt.

Literaturtipp: John P. Kotter (2015): Accerlerate. Strategischen Herausforderungen schnell, agil und kreativ begegnen, Verlag Vahlen

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Quelle Foto: @ peshkova – Fotolia.com

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