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Entscheidungen: mehr Poker als Schach




 

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Als Kind habe ich gern gepokert. Meine Oma spendierte getrocknete Erbsen als Spiel-Einsatz und für ein paar Stunden wurde ihr Wohnzimmer im Kieler Stadtteil Hassee zu einer verruchten, dunklen Zocker-Höhle. Hinter zugezogenen Gardinen ging es ums Setzen, Sehen, Aussteigen, um Drillinge, Straßen, Full House und den ultimativen Royal Flush, den immer alle wollten und nur selten jemand auf der Hand hatte. Die Spielenachmittage machten mich reich an Erbsen und – wie ich heute weiß – an Erfahrungen, die für das Treffen guter Entscheidungen hoch relevant sind.

Beim Poker geht es darum, möglichst viele Erbsen (oder Chips oder Geld) von den anderen MitspielerInnen einzuheimsen. Fünf Spielkarten bilden jeweils eine „Hand“, und wer die stärkste Hand (das beste „Blatt“) hat, bekommt die Einsätze aller anderen. Gesetzt wird ohne Kenntnis darüber, was die übrigen MitspielerInnen auf der Hand haben. Natürlich versucht man herauszufinden, nach welcher Strategie die anderen vorgehen. Man beobachtet sie genau: Gibt es Zeichen von Nervosität? Wie lange wird das eigene Blatt angeschaut? Wie schnell oder langsam werden Entscheidungen getroffen?  Auch mit einem schwachen Blatt kann man das Spiel gewinnen, nämlich dann, wenn die anderen aussteigen und niemand mehr bereit ist, bei den gesetzten Erbsen mitzugehen. Dann hat man gut geblufft. (Und immer, wenn mir das gelungen ist, hat mein kleiner Bruder geheult und „ungerecht“ geschrien.)

Das Pokerspiel erfordert Entscheidungen unter hoher Unsicherheit, deutlichem Zeitdruck und erheblichem materiellen Risiko. Damit gibt es offenkundige Parallelen zur Wirtschaftswelt. Diese Verbindung hat nun eine der erfolgreichsten Poker-Profis aller Zeiten, Annie Duke, hergestellt und ein Buch für ManagerInnen geschrieben. Mit 26 Jahren ließ Annie Duke ihre Promotion in kognitiver Psychologie an der University of Pennsylvania sausen und wechselte zum professionellen Pokerspiel. In ihrer zwanzigjährigen Karriere gewann sie mehr als vier Millionen Dollar an Preisgeldern und wurde mehrfach ausgezeichnet. In die Schlagzeilen geriet Duke auch mit ihren Fähigkeiten als Trainerin: Im Jahr 2004 trainierte sie den Schauspieler Ben Affleck, der daraufhin die California State Poker Championship gewann.

In ihrem Buch plädiert Annie Duke dafür, Entscheidungen als Wetten zu begreifen. Dies, so ihre These, würde die Qualität von Entscheidungen deutlich verbessern. Fragt man Menschen danach, welche ihrer Entscheidungen gut waren, so zählen sie meist solche auf, die zu den erhofften oder beabsichtigten Ergebnissen geführt haben. Führungskräfte sind hier keine Ausnahme, im Gegenteil: Gerade im Businesskontext wird die Qualität einer Entscheidung meist mit ihrem Ergebnis gleichgesetzt. „Kluge Schachzüge“ sind das, worauf ManagerInnen stolz sind. Doch das Bild vom Schachspiel hinkt. Denn Schachzüge sind ausrechenbar. Entscheidungen in komplexen Umgebungen sind dies aber nicht. Das Leben, und das gilt auch für das Wirtschaftsleben, gleicht eher einem Poker- als einem Schachspiel. Die Auswirkungen sind bekannt: Menschen überschätzen sich, verwechseln glauben und wissen, halten ihr Scheitern für Zufall und ihren Erfolg für einen Beweis des eigenen Genies. (Bei den anderen ist es freilich immer genau anders herum, der Erfolg erscheint als glücklicher Zufall und das Scheitern als Ausdruck von Unfähigkeit.)

Erfolgreiche PokerspielerInnen versuchen, sich von solchen „Verzerrungen“ (bias) frei zu machen. Sie betrachten einen Sieg weder als 100-prozentiges Ergebnis ihrer Kompetenz noch als puren Zufall. Damit verlassen sie auch das binäre Muster „guter“ vs. „schlechter“ Entscheidungen und folgen einem probabilistischen Ansatz. Wenn sich die Konsequenzen von Entscheidungen immer einer Mischung aus Können und Zufall verdanken, geht es nicht mehr um richtig oder falsch, sondern um Wahrscheinlichkeiten. Es geht um Wetten auf eine unbekannte Zukunft. Alle Entscheidungen, so Duke, seien letztlich Wetten: ein Umzug, ein Stellenwechsel, eine Vertragsverhandlung, eine Unternehmensgründung. Wenn es gelingt, unsere Wettstrategien zu verbessern, dann verbessern wir auch unsere Entscheidungen. Doch unsere Wettstrategie ist immer nur so gut wie die Vorstellungen und Vorannahmen, von denen wir uns leiten lassen. Schnell haben wir unsere Glaubenssätze zur Hand, schnell stimmen wir Aussagen zu, wenn sie in unser Schema passen und ebenso gern ignorieren wir Dinge, die wir nicht hören wollen. Wir treffen unsere Entscheidungen in selbstbezogener Befangenheit. Davon gilt es sich zu lösen, und genau das zeichnet die herausragenden SpielerInnen an den Pokertischen aus.

Je weniger unsere Vorstellungen von Verzerrungen geleitet sind, desto mehr potenzielle Zukünfte können wir identifizieren und desto besser können wir unsere Wettchancen einschätzen. Dies, und nur dies, hilft schließlich dabei, die Qualität von Entscheidungen wirklich zu verbessern. Dass dies schwierig umzusetzen ist, räumt auch Annie Duke ein. Zugleich gibt sie in ihrem Buch zahlreiche, sehr praktische Tipps, die nicht nur das Arbeitsleben bereichern. Anfangen könnte man z.B. mit der „Buzzword-Kasse“, die Floskeln wie „so ein Pech“, „das weiß ich genau“, „die Planung hat funktioniert“ mit Strafzahlungen ahndet.

Man könnte aber auch das tun, wozu der beginnende Hype um „Thinking in Bets“ mich ganz persönlich inspiriert hat: die Rollos runterlassen, die Erbsen auf den Tisch legen und nach all den Jahren (ehrlicherweise: Jahrzehnten) die Pokerkarten wieder rausholen.

Zum Weiterlesen: Duke, Annie (2018): Thinking in Bets. Making smarter decisions when you don’t have all the facts, New York: Penguin

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