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Likeokratie und Bewerteritis – jetzt bewerten die Unternehmen zurück




 

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Was treibt eigentlich Menschen um, die Bushaltestellen, Bahnhofstoiletten oder Friedhöfe bewerten? Mittlerweile kann man ja so ziemlich alles „liken“ und „raten“ – und die Leute tun das auch. „Likeokratie“ nennt das der Journalist Niklas Maak und datiert den Beginn des Bewertungswahns auf das Auftauchen des virtuellen Daumens bei Facebook. Das war 2009. Derweil sind Daumen und Sternchen, Noten und Smileys zu einer mächtigen Währung avanciert, die längst in allen Lebensbereichen gehandelt wird. Pizza pappig? Chefin ruppig? Bauch üppig? Daumen runter! Gemeckert wird ja bekanntlich immer gern, und in der Anonymität der Bewertungsportale fällt das umso leichter. Das kann mitunter groteske Formen annehmen, wovon nicht nur Gastwirte ein Lied singen können: „Das Schnitzel hat nach Schwein geschmeckt – eklig!“

Vermutlich greift es zu kurz, wenn man behauptete, öffentliche Bewertungen im Internet seien ein Ventil für Menschen, deren Meinung ansonsten niemanden interessiert. Ganz sicher spielt aber der psychologische Aspekt, über Bewertungen Einfluss nehmen zu können und Geltung zu erlangen, eine wichtige Rolle. Auch die Möglichkeit, unerkannt „Rache“ üben zu können, z.B. bei der Bewertung von Arbeitgebern und ÄrztInnen, oder sich namentlich einzuschleimen, z.B. bei der Bewertung von ProfessorInnen, dürfte eine gewisse Relevanz besitzen. Oft sagen dabei die Bewertungen mehr über ihren Verfasser aus als über den Gegenstand der Bewertung. In diesem Sinne sind Bewertungen immer auch eine Form der Selbstdarstellung – ganz gleich, ob beabsichtigt oder nicht.

Lange war das Bewerten von Dienstleistungen, Produkten und Anbietern ein Privileg von Kunden und NutzerInnen. Bewertungsportale unterminierten zunehmend das klassische Marketing, sodass Unternehmen sich darauf einstellen und die Kunden stärker einbinden mussten. Gerade zu Beginn dieser Entwicklung gab es immer wieder auch Skandale um gekaufte und gefälschte Bewertungen. Von einer neuen Macht der Kunden war die Rede, die ins Unermessliche zu wachsen schien. In einigen Branchen wurden Weiterempfehlungsraten und Kundenmeinungen gar zur bestimmenden Größe, so etwa in der Reisebranche. Es gibt Reisebüros, die ihre Kunden beim Vertragsabschluss eine gesonderte Erklärung unterschreiben lassen, wenn diese sich für ein Hotel entscheiden, dessen Weiterempfehlungsrate unter 80% liegt.

Doch die Zeiten wandeln sich. Und bevor Sie das nächste Mal versucht sind, dem Bäcker um die Ecke den umgedrehten Daumen zu zeigen, weil Sie angebrannte Croissants nicht mögen, seien Sie achtsam! Womöglich bewertet er zurück. Damit wäre er nicht allein, denn allmählich gehen Unternehmen dazu über, die andere Seite der Geschäftsbeziehung ebenfalls mit Sternchen und Ratings zu bedenken. So berichtete Maak kürzlich im Feuilleton der FAS von einem Freund aus den USA, der sich um sein Fahrgast-Rating beim Fahrdienst Uber sorgte. Als Galerist bestellt er den Künstlern nach Festen oft nächtens ein Uber, und offenbar ist diese Klientel bei den Fahrern nicht sonderlich beliebt. Jedenfalls fürchtet der Freund, in Zukunft von der Personenbeförderung ausgeschlossen zu werden, sollte sich sein Bewertungsprofil nicht um ein paar Punkte nach oben verschieben. Da Uber offensiv mit der wechselseitigen Beurteilung wirbt, verändert sich womöglich auch das Verhalten der Fahrgäste: Wasserflaschen, Trinkgelder, vorbildliche Körperhygiene könnten der Beliebtheit als Fahrgast auf die Sprünge helfen. Auch Facebook betreibt offenbar seit einiger Zeit ein internes Rating seiner NutzerInnen, und zwar in Bezug auf den Umgang mit „Fake News“. Bonuspunkte bekommen jene, die gefälschte Nachrichten melden. Herabgestuft werden alle, die Nachrichten fälschlicherweise als „Fake“ melden, weil sie mit den Inhalten nicht einverstanden sind.

Der erzieherische Wert von Bewertungen ist nicht zu unterschätzen. Das wissen nicht nur Kunden und Unternehmen. Auch Staaten machen sich Bewertungssysteme zu Nutze, man denke nur an das Punktesystem der „Sünderkartei“ in Flensburg. Mit der zunehmenden Digitalisierung ergeben sich allerdings ganz neue Dimensionen. In China etwa wird derzeit ein neues Sozialkreditsystem getestet, bei dem ab 2020 alle BürgerInnen ein digitales und zentral erfasstes Punktekonto haben werden. Bewertet werden soll das „Wohlverhalten“ der BürgerInnen. Berufliche Leistungen, soziales Engagement und moralische Integrität sorgen dabei für einen hohen Punktestand. Wer hingegen sozial (und politisch) unerwünschtes Verhalten zeigt – öffentliches Trinken, Überqueren einer roten Ampel, Steuern hinterziehen oder gegen das Regime demonstrieren zum Beispiel – muss mit einem niedrigen Punktestand rechnen. Noch sind entsprechende Sanktionen in der Erprobungsphase, doch ist davon auszugehen, dass ein schlechtes Rating für den Einzelnen beispielsweise zur Verweigerung von Krediten, zur Einschränkung bei der Nutzung von Autobahnen oder bei der Schulanmeldung führen könnte.

Ob sich mit der umgreifenden Bewerteritis möglicherweise eine menschliche (Selbst-)Domestikation verbindet, wie Maak mit einem Hinweis auf die Forschungsarbeit des Anthropologen Brian Hare („Survival of the Friendliest“) zur Diskussion stellt, mag ich hier nicht beurteilen. Hares These besagt, dass in der menschlichen Evolution prosoziales Verhalten einen entscheidenden Selektionsmechanismus darstellt. Es spricht durchaus Einiges dafür, dass Ratings die Disziplinierung von Menschen und Organisationen befördern können – auch in Richtung auf „prosoziales Verhalten“. Wenn aber Menschen und Organisationen unter dem Druck ständiger Beurteilung stehen und sich dem Diktat der Likeokratie – in welcher Form auch immer – unterwerfen (müssen), dann ist das in meinen Augen ein zivilisatorischer Rückschritt.

Was halten Sie von der Bewerteritis? Anregungen und Kommentare sind wie immer willkommen.

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